Als wir im Bildungsausbruch begannen, nach Themen zu suchen, die für die Arbeit des Bildungsausbruch relevant sein könnten, war die "Zusammenarbeit mit Eltern" von Anfang an dabei. Auf der Suche nach einem guten Referenten stießen wir auf Dr. Alexei Medvedev, weil er ein tolles Buch zu dem Thema geschrieben hat: „Heterogene Eltern. Die Kooperation von Eltern und Schule neu denken und umsetzen“ (Beltz-Verlag 2020). Die Kontaktaufnahme gelang, und wir fanden einen passenden Termin am 15.11.2023. Herzlichen Dank an dieser Stelle noch mal für die gastgebende Wilhelm Busch Schule im Hammer Westen.
Und der Fokus der Fragestellung lag ganz klar auf der Frage, wie man die Eltern erreichen kann, die sich auf den gängigen Wegen trotz vieler Bemühungen nicht beteiligen. Und Medvedev hat zu dieser Frage Antworten, die nicht unbedingt bequem sind. In seinem Buch spricht er vom Mythos der Schwererreichbarkeit. Aber er will nicht anklagen, sondern anregen, neue Sichtweisen zu entwickeln und die eigenen alten Sichtweisen infrage zu stellen. Den Abend gestaltet er durch vier „Häppchen“, kurze Vorträge, die durch Austauschrunden unterbrochen sind.
1. Eltern, aber warum?
Zunächst lädt Medvedev ein, noch einmal zu hinterfragen, warum Eltern überhaupt gebraucht werden. Ein Gott sei Dank pensionierter Schulleiter einer Grundschule im Ostwestfälischen sagte noch vor ca. 15 Jahren: „Wer Elternarbeit macht, zeigt Schwäche!“ Heute sind sich alle irgendwie einig, dass die Eltern doch irgendwie auch wichtig sind, aber Medvedev fragt: Warum eigentlich? Im Dialog mit den ca. 50 anwesenden Fachkräften und Eltern kommen folgende Antworten zustande:
- Eltern sind mit die wichtigsten Akteure in Sachen Bildung. Wir wissen, dass zwei Drittel der Wirkungsfaktoren gelingender oder auch misslingender Bildung familiäre Faktoren sind. Dazu gehören der soziale Status der Eltern, ihre Bildungsabschlüsse, aber auch das „kulturelle Kapital“ der Familie.
- „Gute Elternarbeit“ verbessert das Schulklima und somit den Lernerfolg von Kindern und Jugendlichen. Nur wenn alle Akteure in guten und vertrauensvollen Beziehungen miteinander arbeiten, können Schülerinnen und Schüler gut lernen. Angst, Stress, ungelöste Konflikte blockieren das Lernen.
- Eltern sind die wichtigste Instanz der Berufswegeplanung: die oben zitierten Forschungsergebnisse könnte man darauf reduzieren, dass dies für kleine Kinder gilt. Aber entsprechende Untersuchungen zeigen, dass gerade auch im Übergang von der Schule in den Beruf oder Studium Eltern noch prägenden Einfluss haben. Dieser Einfluss muss nicht positiv sein er kann manchmal auch blockieren oder sogar kontraproduktiv sein. Insofern ist es umso wichtiger, sie in den Prozess des Übergangs einzubeziehen.
- Schulen brauchen elterliches Engagement: eine lebendige Schule braucht engagierte Eltern. Eltern können Schulen vielfältig mitgestalten, und auch der Kuchen zum Schulfest kann ein wertvoller Beitrag sein, das Engagement darf aber nicht darauf reduziert sein. Medvedev berichtet von seiner hauptberuflichen Tätigkeit im Hamburger Schulsystem, bei dem er Schulen begleitet und unterstützt, damit Eltern und Schülerinnen und Schüler als Mentoren und Mentoren andere Eltern und Schülerinnen unterstützen und begleiten. Er berichtet davon, dass gut funktionierende Elterncafés (er promoviert gerade zu diesem Thema) Schulsekretariate entlasten können, in dem Eltern andere Eltern bei bürokratischen Hürden unterstützen.
- Schließlich beschreibt er unterschiedliche Perspektiven auf Eltern, und hier gilt wohl der schlichte Satz: „wie du in den Wald hineinruft, so schallt es heraus“:
- Kontrahent*innen
- passive Beobachter*innen
- Assistenten
- Kooperationspartnerinnen
- Konkurrenz/Quasi Lehrkräfte
- Wie viel Elternengagement ist genug? Mit dieser Frage gleitet Medvedev die erste „Murmelrunde“ ein. Auch dies ist eine zentrale Klärungsfrage. Manche Leitbilder suggerieren, dass alle Eltern immer und überall aktiv und beteiligt sein sollen, während er minimalistische Vorstellungen davon ausgehen, dass Eltern nur dann kommen sollten, wenn es Probleme mit dem Kind gibt.
2. Normalitätsvorstellungen und Haltungsfragen
- Durch verschiedene Bilder von Kooperationskonstellationen zeigt Medvedev unterschiedliche Normalitätsvorstellungen und Haltungen.
- Hierarchisch konfrontativ
- Belehrend
- auf Augenhöhe
- gemeinsam am Tisch
- Doch wer sind überhaupt die Eltern? Medvedev plädiert für einen erweiterten Familienbegriff, der der Tatsache Rechnung trägt, dass eine normative Definition von Familie heute kaum noch möglich ist. Vielmehr muss man sich von den traditionellen Vorstellungen lösen, dass eine Familie aus verheirateten Eltern mit leiblichen Kindern in einer auf Dauer angelegten Beziehung leben. Und die allermeisten Begriffe für verschiedene Familienkonstellationen implizieren Abwertung und Diskriminierung: Alleinerziehendenfamilie, Regenbogenfamilie, Lebensabschnittsbeziehung, Familie mit behinderten Kindern. Und es ist kein Wunder, dass Eltern, die sich subtil diskriminiert fühlen, den Kontakt zur Schule vermeiden, zumal sie ja möglicherweise mit sich selbst noch nicht im Reinen sind und von Schuldgefühlen, Ängsten und Scham erfüllt sind.
- Und was wollen die Eltern? Medvedev verweist auf eine Reihe von Studien, in denen die Perspektive von Eltern gut belegt ist. Diese Studien belegen, dass Eltern meist das Beste für ihr Kind wollen und bereit sind, sich zu engagieren, dann aber die Kooperation mit Schule und die Behandlung durch die schulischen Akteure zum Teil als problematisch empfinden. Die Schule ruft nur an, wenn es Probleme gibt („ich könnte kotzen, wenn ich die Nummer der Schule im Display sehe“). Schule ist aus der Perspektive der Eltern häufig schwer erreichbar.
- Insofern ist das Konstrukt „schlecht erreichbare Eltern“ nicht weiterführend, wenn es nur benutzt wird, um ihnen die Verantwortung für mangelhafte Kooperation zuzuschieben. Wenn Schule sich wirklich dafür interessiert, was Eltern von der Teilhabe und Teilnahme abhält, kann sie für diese Barrieren Brücken bauen oder sie ganz abbauen.
- Dies leidet zur zweiten Murmelgruppe über: „welche Haltungen Eltern gegenüber herrschen an ihrer Schule vor?“
3. Eltern-Heterogenität und Folgen
Die veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die mit den Begriffen Individualisierung, Pluralisierung, Multikulturalität nur unzureichend beschrieben sind, stellen Schulen vor große Herausforderungen schon bei den Schülerinnen und Schülern. Die gleiche Notwendigkeit einer individuellen Sichtweise und individuellen Behandlung stellt sich auch bei den Eltern. Aber wie kann das gehen? Medvedev beschreibt zunächst noch einmal unterschiedliche Dimensionen der Heterogenität:
- sprachliche, kulturelle, religiöse Vielfalt
- sozioökonomische Disparitäten/neue Armut
- plurale Familienformen
Knackpunkt der Problematik ist, dass die traditionellen Formate schulischer Elternarbeit sich an der weißen, bürgerlichen Mittelschicht orientieren. Dies ist in den Schulen zum Teil schon bewusst, man versucht jedoch ganz unterschiedliche Strategien, um damit umzugehen:
- Bei uns wird nicht differenziert, wir behandeln alle gleich!
- Wir denken in Communities: durch die Identifizierung der größeren sozialen Gruppen einer Schule und die Ausrichtung der Arbeit auf diese Gruppen versucht Schule die Basis der beteiligten Eltern zu vergrößern.
- Jeder ist individuell!
Für alle Muster beschreibt Medvedev mögliche Risiken:
- Gefahr des Negierens von Benachteiligungen
- Gefahr einer „Drei Klassen Eltern Arbeit“ (die bürgerlichen Eltern in den Elterngremien mit Einfluss, eine zweite Gruppe trifft sich im Elterncafe und entlastet die Lehrkräfte, eine weitere Gruppe backt den Kuchen für Schulfest)
- Gefahr einer Atomisierung der Elterngemeinschaft
Frage für die dritte Murmelgruppe: „Wie geht ihre Schule mit der Eltern Heterogenität um?“